Der Schritt auf die Matte, meine Hände geschlossen für einen Moment der Dankbarkeit
vande gurūṇāṁ caraṇāravinde…
Ich atme ein, ich atme aus
Ekam – Einatmen, meine Hände streben nach oben, Blick über die Daumen … mein erster Sonnengruß oder Surya Namaskar an diesem Tag.
Ich fließe durch die Bewegungen so geschickt wie möglich in diesem Moment, an diesem Tag und versuche, nichts als „gut“ oder „schlecht“ zu bewerten.
Mein Blick wandert als drishti, der empfohlenen Blickrichtung, und zwingt mich ganz im Moment zu sein. Immer.
Ich kann zuschauen, wie mein Kopf zwischen Gedanken hin- und zerspringt, ganz wie ein Affe von Baum zu Baum. Ich beobachte vorbeiziehende Emotionen, freue mich über Entspanntheit, fühle aufkommende Nervosität, Spannung, Hitze und wie diese wieder verschwinden.
Ich spüre meine Körper, manchmal kräftig, oder auch schwach, manchmal müde, manchmal überraschend gekonnt, am Rande des Zerbrechen, dann wieder stabil, manchmal voller Freude, dann wieder schreiend unter dem Druck. Nichts bleibt gleich, alles verändert sich.
Ständig.
Nur Atmung, Bewegung, sanfter gerichteter Blick folgen den Regeln, so gut es geht – alles folgt dem Bewegungsfluss und ich erkenne das Wunder, im Moment zu sein und finde pure Freude beim Erkunden höchster Bewusstheit.

Ich hab Ashtanga Vinyasa Yoga nun schon reichlich über 10 Jahre praktiziert. Für den Großteil der Zeit war das pure Eigenpraxis, alleine für mich oder mit meiner Frau auf der Matte neben mir. Nur gelegentlich, oftmals über die kalten Wintermonate, habe ich dann mehrere Wochen oder auch Monate intensiv mit meinen Lehrern in Indien und Thailand praktiziert, um neue Impulse zu bekommen, meine Praxis „aufzuräumen“ und sicher zu gehen, dass ich auf einem guten Weg bin.

Ashtanga Vinyasa Yoga wird traditionell als Eigenpraxis im sogenannten Mysore-Stile unterrichtet. Positionen werden nicht einer Gruppe von Schülern gleichzeitig beigebracht. Vielmehr lehrt der Lehrer die asanas dem Schüler direkt, und zwar eine nach dem anderen und erst wenn der Schüler bereit für die jeweilige Person ist.

Dieser Fokus auf das Entwickeln einer authentischen Eigenpraxis macht diese Yogatradition besonders herausfordernd, da wir immer und ständig mit dem gleichen Hindernis konfrontiert werden: UNS SELBST.

Selbst wer über das ganze Jahr hinweg mit einem Lehrer praktiziert, in der Mysore-Stunde ist man mit sich und seiner Praxis alleine und auf sich selbst konzentriert, auch wenn der Lehrer diesen Prozess der Selbsterkundung unterstützt.

Über viele Jahre der Praxis verändern sich Körper und Geist langsam – zusammen mit den Augen, durch die wir unser Leben sehen. Es ist einfach schwer wenn nicht unmöglich, seine Perspektiven und Lebenseinstellungen nicht anzupassen, wenn wir soviel Zeit damit verbringen, nach innen zu schauen und an uns zu arbeiten.

Aber was ist dann die Rolle des Lehrers, wenn es doch eh nur um Selbsterkundung und das Schauen nach innen geht?

Die Rolle des Lehrers beinhaltet insbesondere zwei Aspekte: Inspiration und liebevolle Begleitung.

Inspiration, die uns neugierig und ausdauernd sein lässt und das innere Feuer anheizt, dranzubleiben, die uns noch ein bisschen mehr an uns arbeiten lässt und uns erinnert, dass man noch tiefer eintauchen kann wenn man gerade mal denkt, man hat schon etwas erreicht.

Und liebevolle Begleitung, die unseren Fokus, die Techniken und die Art unserer Praxis über die Zeit langsam anpasst.

Ein äußerer Lehrer kann Inspiration und liebevolle Begleitung anbieten und begleitet uns idealerweise über eine lange Zeit, in der er uns „auf Kurs hält“, wenn unser Ego uns mal wieder für blöd verkaufen will, z.B. wenn es Ausreden findet, warum die anderen Schuld sind. Der äußere Lehrer weiß, wann wir für neue asanas oder bestimmte Übungen, z.B. Atemübungen, bereit sind und weiß, wie man mit bestimmten Erfahrungen umgehen kann, einfach weil er schon an der selben Stelle stand in seiner eigenen Praxis.
Dafür benötigt der äußere Lehrer nicht viel mehr als unser volles Vertrauen – leicht gesagt, nicht wahr?

Und wer ist der innere Lehrer?

Der innere Lehrer gibt uns auch Inspiration und liebevolle Begleitung: Er ist unser inneres Feuer und unser starker Wille, jeden Tag wieder zu praktizieren, neugierig zu bleiben und beständig. Er ist unser Bauchgefühl, dass uns sagt, ein bisschen sanfter an manchen Tagen zu praktizieren und an anderen Tagen einfach alles zu geben und bis an unsere (eingebildete) Grenze zu gehen. Er ist unser innerer Beobachter, der uns auf unsere Faulheit, Sturheit und unseren Narzissmus aufmerksam macht, natürlich ganz liebevoll und ohne Wertung.

Wenn innerer und äußerer Lehrer perfekt und in einer langfristigen Beziehung zusammenarbeiten, kann unsere Praxis uns sehr weit führen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung und sehe es in meinem Umfeld immer wieder.

Wohin diese Reise letztlich führt, das versuche ich immer noch rauszufinden. Aber bis jetzt war die Reise echt einfach genial.


Tom Richter
Tom Richter

Experte in den Bereichen Ashtanga Vinyasa Yoga, Atemtechniken und Meditation. Yogalehrer, Yogalehrer-Coach