In meinen Mysore-Stunden begleite ich die Übenden oft über viele Jahre in ihrer regelmäßigen Yogapraxis und schaffe so einen sicheren Raum, in dem losgelassen werden darf, die Komfortzone verlassen wird und alles angenommen wird, was „hochkommt“.
In diesem Umfeld ist es inzwischen fast schon alltäglich, dass spontan gelacht, geweint, auch mal still für sich die Wut gespürt wird. Die Praxis mit dem tiefen Atmen in herausfordernden Positionen und das dauerhafte Schauen nach innen bringt diese Wellen von Emotionen hoch – und wir dürfen sie dann, jeder für sich spüren, bis die Welle vorbei ist.
Und dann? Dann ist’s auch wieder gut! Welle kommen gesehen, Welle wirklich gespürt, Welle vorbei, weiter gehts!
Das schöne in der Yogastunde ist nämlich, dass uns niemand provoziert hat. Es ist so viel leichter zu begreifen, dass es unsere Emotion ist, die – wie eben eine Welle – einfach mal durchschwappt. Da muss kein Grund im Außen gesucht werden.
Aber wie läuft so etwas oft im Alltag ab: Jemand, der dir nahe steht, sagt etwas, dass dich beispielsweise wütend macht, was du als verbalen Angriff auffasst. Dein Geist schickt die passenden Gedanken hinterher und baut eine Geschichte um die Emotion, die du gerade spürst. Du gehst auf das Gesagte – auf den „Angriff“ ein, schießt zurück, denn jetzt ist plötzlich die Geschichte viel wichtiger als das Gefühl. Ihr streitet und sagt Dinge, die ihr im Nachhinein bereut. Andere emotionale Welle türmen sich auf, werden aber nicht gespürt, weil du mit streiten beschäftigt bist. Und nach einer Weile mit all den aus dem Streit folgenden weiteren Emotionen wird der Streit hoffentlich beigelegt.
Inzwischen gelingt es mir immer mehr, diesen Rhythmus zu brechen und bei mir und meinen Emotionen zu bleibe.
Ein extrem nützliches Werkzeug hierfür ist für mich die Technik der Notfall-Selbst-Empathie. Ich habe diese Technik aus der gewaltfreien Kommunikation übernommen und nutze sie fast täglich, inzwischen weniger als Notfall-Werkzeug sondern eher um bei mir und im Moment präsent zu bleiben.
Die Technik umfasst nur einen Satz: „Ich fühle mich … weil ich ein Bedürfnis nach … habe.“
Sobald ich spüre, dass ich von außen getriggert werde, spüre ich nach innen und benenne konkret, was ich fühle und welches Bedürfnis dahinter stehen könnte.
Beispiel: Ich fühle ganz viel Wut / Stress, weil ich gerade alleine und in Ruhe sein will.
Wichtig: Dabei bleibe ich ganz bei mir – also ohne: „du stresst mich“ oder „weil ich will, dass du mich in Ruhe lässt“
Das klare Benennen, was du spürst, welches Bedürfnis du hast sowie das ganz bei dir bleiben helfen, die Gefühle ganz anzunehmen und danach (!) in ein lösungsorientiertes Denken zu kommen, anstatt zum Gegenangriff überzugehen. Denn da du bei dir bleibst, kannst auch du allein die Lösung sein.
Und das Begreifen und wiederholte Erfahren der Emotionen als Welle, die wirklich vorbeigeht, hilft geduldig nach innen zu spüren, auch wenn es schwer ist.
Am Anfang ist es richtig herausfordernd, dem Verlangen zu widerstehen, sich in den Streit ziehen zu lassen – man ist ja immerhin im Recht – nicht wahr.
Aber nach ein paar Erfolgserlebnisses ist es für mich einfach nur genial, wie einfach es ist, unsägliche Konflikte zu umschiffen.
Wenn du diese Technik üben willst, kannst du über denn Tag verteilt regelmäßig nach Innen spüren und den Satz für dich formulieren. Am Anfang ist es wichtig, dies regelmäßig zu tun, auch und gerade wenn es dir super gut geht. Denn es dauert ein wenig, bis man direkt und zielsicher Emotion und Bedürfnis klar benennen kann (zumindest war das bei mir so).
Immer, wenn du also gerade mal einen Moment hast – beim Kaffee kochen, beim mal kurz aus dem Fenster schauen, beim Händewaschen, in der Warteschlange – spüre einfach in dich hinein und formuliere aus, wie du dich fühlst und welches Bedürfnis dahinter steht. Lasse dabei äußere Umstände und andere Personen wie oben beschrieben unerwähnt.
Wenn du ein bisschen Übung darin hast, wird es dir immer leichter fallen, auch in anspruchsvollen Situationen bei dir zu bleiben und die Gefühlswellen deiner Mitmenschen vorbeiziehen zu sehen, ohne hineingezogen zu werden.